Kurze Gedanken zu einem langen Studiensemester

„Oft stand ich auf meinen Bahnfahrten zwischen Wittenberg und Leipzig am Fenster und ließ die Welt draußen mal auf dieser mal auf jener Seite an mir vorüberziehen. Van Morrison, Sting und viele andere lieferten den Soundtrack dazu per Kopfhörer direkt in mein Ohr. Vieles wurde immer bekannter und manchmal konnte ich schon voraussagen, was nach einem kleinen Waldstück oder einem kleinen Schrebergarten folgen würde. Doch bis zum Schluss entdeckte ich immer wieder neue Ausblick und Motive, die mich überraschten…“

So beginnt der Bericht über mein Studiensemester 2019 in Leipzig und Wittenberg. Wer mehr erfahren möchte und sich vor dem Erklimmen einiger theologischer Gipfel nicht scheut oder ihre Erhabenheit aus angemessener Entfernung bestaunen möchte, der lese bitte hier weiter „Studiensemester 2019“

Für alle anderen versuche ich einige Beobachtungen und Erkenntnisse für uns und unsere Gemeinde zusammenzufassen.

Das legendäre christliche Abendland erlebt einen gewaltigen Klimawandel. Die Polkappen der Tradition sowie der gesellschaftlichen Akzeptanz und Relevanz schmelzen für die institutionalisierte Religion langsam aber sicher und gerade auch für die christlichen Kirchen. Das Wasser steht uns noch nicht bis zum Hals, aber wie bei auflaufender Flut erobert es sich mit jeder Welle ein wenig mehr Land zurück. Wir wissen davon seit den ersten Kirchenaustrittswellen in den 80er und 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts. Aber erst jetzt nehmen wir wahr, dass dies die Vorläufer eines weltweiten Veränderungsprozesses waren. Wir können ihn bestaunen oder bejammern, aber wir werden ihn nicht aufhalten. Eine ausgefeiltere Methodenvielfalt oder progressivere Modernisierungsprogramme sind ebenso wenig hilfreiche Allheilmittel wie eine immer bessere Verwaltung der immer weniger werdenden Ressourcen.  

Was wir brauchen sind individuelle und kollektive Identitäten, die für den christlichen Glauben ein- und aufstehen. Gefragt sind christliche Persönlichkeiten, die sich von der Wirklichkeit Gottes in Jesus ergreifen lassen und in sichtbaren Gemeinschaften einladende wertschätzende Beziehungen schaffen. Kurz: Du, Ich und Wir sind gefragt!

Und hier sind die Fragen:

Woran würde Martin Luther erkennen, dass Du Christ bist, wenn er Dich 24 Stunden in Deinem Leben begleitete?

Wie erklärst Du jemandem, was Dir der christliche Glauben bedeutet, wenn Du dafür nur 60 Sekunden in einem Fahrstuhl hast?

Was würde Dir fehlen, wenn aufgrund der Abschaffung der Kirchensteuer und Nachwuchskräftemangel die evangelische und katholische Kirche zum 01.01.2022 dicht machten?

Wie erklärst du jemandem, warum es gut für ihn ist, unsere Gemeinde kennenzulernen ohne die Worte „Gemeinschaft“, „Singen“, „Kirch-Café“ und „Pastor“ zu benutzen?

Das sind übrigens die Fragen, die mich auch in meinem Studiensemester bewegt haben und für die ich nicht die abschließenden Antworten gefunden habe. Und das ist vielleicht auch gut so, weil es abschließende Antworten hier nicht gibt. Oder um jetzt wenigstens einmal Martin Luther zitiert zu haben: „Das Leben ist nicht ein Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht eine Gesundheit, sondern ein Gesundwerden, nicht ein Sein, sondern ein Werden, nicht eine Ruhe, sondern eine Übung.“

Also lasst uns zusammen üben! Und Gott bewahre uns davor, dass wir uns die Zeit zum Üben stehlen lassen durch das Bewirtschaften und Instandhalten von Gebäuden, von der buchstabengetreuen Umsetzung von Verwaltungsvorschriften oder dem gehetzten Reagieren auf Studien zur Zukunft der Kirche. Wenn das bedeutet, dass wir wieder mehr „wanderndes Gottesvolk“ werden ohne Kirchen und Gebäude, dann wollen wir uns mit diesem Gedanken schon mal vertraut machen.

Mein Vorschlag: alle Christen in Witten schwänzen einmal im Monat den sonntäglichen Gottesdienst und treffen sich zu „Sundays for Souls“ auf dem Rathausplatz mit Plakaten wie „Es gibt einen Gott und wir sind es nicht!“, „Aufstand für den Auferstandenen!“ oder „BeGEISTerung verbindet!“

Oder wollen wir uns wirklich in einigen Jahren anhören müssen: Ihr seid schuld, das unsere Generation ohne Jesus aufgewachsen ist. Ihr habt uns die Hoffnung gestohlen, habt sie in euren Kirchenmauern eingesperrt oder einfach unter den Tisch fallen lassen. Ihr habt sang- und klanglos zugesehen, wie eine Tür zum Himmel nach der anderen einfach hinter euch ins Schloss fiel.

Wollen wir uns das wirklich anhören müssen. Nein! Aber manchmal höre ich diese Stimmen schon jetzt…
Dirk Schuklat

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